Murex brandaris

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Gleichzeitig erhebe ich Titelschutz für:

PURPUR - Die
Farbe des Lichts

in allen Schreibweisen.

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Rekonstruktion

    Die Rekonstruktion

Nach dem Abschluss meiner optischen, chemischen und physikalischen Versuche fragte ich mich: Unter welchen Bedingungen wäre ein solcher Vorgang wie die Fälschung des Tuches möglich und denkbar gewesen? Wie könnte man sich das Vorgehen der Fälscher vorstellen? Ich wollte sehen, wie sich eine solche Geschichte entwickeln lässt und wie sie in die angenommene Zeit eingebettet wirken würde.

Das Artefakt, das Grabtuch, existiert. Es hat die Zeiten überdauert und liegt eingesperrt hinter Panzerglas in einer Kirche in Turin. Der geschichtliche Rahmen ist nachgewiesen. Aber die Namen der handelnden Personen - Bauern, Tagelöhner, Handwerker - sind nicht bekannt. Deshalb habe ich ihnen auch im Text keine Namen gegeben. Sie werden nach Attributen oder ihren Berufen benannt: Der Junge, der alte Färber, der Totengräber. Alle Personen, die mit einem Namen auftreten, sind geschichtlich nachweisbar, die anderen nicht.

Die so entstandene "Szenische Rekonstruktion" umfasst bis heute etwa 300 Seiten und spannt den Bogen von 2004 zurück in die Jahre 1290 und 1291 um dann, nach einer kurzen Episode im Jahr 1355, im Jahr 2006 zu enden.
Am Ende dieser Seite finden Sie ein Exposee zu diesem Text

 

 

Hier folgt eine kurze Leseprobe aus den ersten Kapiteln.

PURPUR – Die Farbe des Lichts
 

Erstes Buch: Artefakt

(...)
Also, dachte er, machen wir uns an die Arbeit. Wie strukturiere ich das?

Zunächst werde ich eine kurze Geschichte der Grabtuches recherchieren und festhalten. Dann muss ich versuchen, so viel wie möglich über die antike Purpurfärbung herauszufinden und prüfen, wo sich Bezüge und Überschneidungen zum Grabtuch und seiner Geschichte ergeben.

Wenn sich deutliche Überschneidungen ergeben, dann muss ich versuchen, das Verfahren zu rekonstruieren, in dem das Grabtuch hergestellt worden ist oder sein könnte.

Zuallererst aber muss ich klären, wie das alles vor dem historischen Hintergrund wirkt. Gab es in der Landschaft der Purpurfabrikation einen Grund für so eine Fälschung? Gab es ihn in dem Zeitrahmen, den die Radio-Karbon-Datierung vorgibt? Und warum sollten sich ein paar biedere, mittelalterliche Färber daran machen, die raffinierteste Fälschung der Geschichte herzustellen?

*

Ein Bischof reiste von Zypern nach Tyros. Im Herbst, im Jahr 1290. Er hatte von der Spitze seiner Kirche den Auftrag erhalten, sich dort mit einem alten Färber zu treffen und diesem ein paar Fragen vorzulegen. Warum er das tun sollte, war ihm nicht gesagt worden. “Fragt ihn. Und berichtet uns, was er sagt.” Die Unterhaltung sollte in der Basilika stattfinden - einst das Gerichtsgebäude der alten Phönizier, jetzt eine Christliche Kirche.

Der Alte erschien in Begleitung eines vielleicht fünfzehnjährigen Jungen. Gestützt auf einen kräftigen Stab, in Lumpen, nach seinem Beruf stinkend. Alt, gebeugt, devot. Der Bischof war schockiert: Mit diesem alten Wrack sollte er Fragen der Politik diskutieren?
Aber er tat, was man ihm aufgetragen hatte. Der Bischof erklärte dem Alten die politische Situation.

1260 hatten die Mamluken bei Ain Galut, an der Goliathsquelle, die Mongolen besiegt und vertrieben. Seitdem war ihr Einfluss, vor allem aber ihre militärische Stärke immer weiter gewachsen. Jahr für Jahr rüsteten sie Heere aus und überzogen in ihren Frühjahrs-Offensiven das Heilige Land mit Krieg.

"Und Jahr für Jahr haben sie uns weiter an den Rand gedrängt. Unter Sultan Baibars war es am schlimmsten - nach seinem Tod hatten wir gottlob einige Jahre Ruhe. Sein Nachfolger, Qalawun, brauchte fast acht Jahre, bis er sein Regime gefestigt hatte. Aber dann hat er die Tradition seines Vorgängers wieder aufgenommen. Und jetzt der Überfall auf Tripolis im vergangenen Jahr ... Das erklärte Ziel der Mamluken ist es, uns von der Karte des Heiligen Landes zu radieren. Im April 1289, nach der Eroberung von Tripolis, sah es für einen Moment sehr gefährlich aus für Outremer. Aber kluge Diplomatie führte zu einem neuen Friedensvertrag, der nun zehn Jahre dauern soll. Wir wissen aber auch, dass dieser  Vertrag jederzeit aufgelöst oder gebrochen werden kann. Das Schlimmste dabei ist: Die Mameluken wollen keine politische Lösung, keine Koexistenz. Sie wollen erobern, plündern, zerstören und dafür sorgen, dass kein Christ in Syrien am Leben bleibt.“

In dieser Situation könne Hilfe nur von aussen kommen. Schon lange gäbe es in der Kirche Überlegungen, wie man neue Kreuzzüge auf den Weg ins Heilige Land bringen könnte, zur Unterstützung der Christen gegen den übermächtigen Feind. Und bis zum tragischen Tod von Papst Gregor, so der Bischof, sah es auch so aus, als ob das klappen würde. Der Papst sei ein glühender Anhänger der Kreuzzugs-Idee gewesen. Seither hatte es sieben Nachfolger gegeben, von denen keiner lange im Amt gewesen war. Manche nur ein paar Wochen. Aber jetzt gäbe es endlich wieder einen gesunden tatkräftigen Papst, Nikolaus den IV, der erkennen lasse, dass er bereit sei, etwas für seine bedrängten Glaubensbrüder zu tun. Es sei aber notwendig, das Volk im Abendland für eine solche Idee zu gewinnen.

"Ein Kreuzzug braucht eine Sammlungsbewegung, und dieser muss ein konkretes, fassbares Ziel geboten werden.“

Die Befreiung des heiligen Grabes in Jerusalem sei lange Zeit eine sehr gute Zugnummer gewesen. Aber mit den Verlust der heiligen Stadt vor 45 Jahren habe sich das vorerst erledigt. Kein europäischer Herrscher könne heute noch für Rückeroberungspläne begeistert werden - sie seien viel zu tief in ihre eigenen Probleme verstrickt. Selbst Rom müsse zur Zeit alle seine Kräfte auf das sizilianische Problem konzentrieren - die Zukunft Europas hinge von der Lösung dieser Frage ab.

Trotzdem wolle man aber versuchen, wenigstens die Küstenstädte langfristig zu sichern. Und Papst Nikolaus wolle seine ganze Autorität einbringen, um in dieser Richtung voran zu kommen. Vor ein paar Wochen erst habe er ein grösseres Kontingent von italienischen Freiwilligen ausheben lassen, die inzwischen auch in Akkon eingetroffen seien.

"Meine Aufgabe ist es nun, einer neuen Kreuzzugsbewegung in Europa auf die Beine zu helfen. Deshalb bin ich hierher geschickt worden, beauftragt vom Kardinalskollegium. Wir brauchen eine Fahne, ein Wappen, ein Symbol, hinter dem sich die Soldaten Gottes sammeln können."
 

Was damit gemeint sein könne, fragte der Alte, nachdem der Bischof nicht weitersprach.

Der sah ihn an, sagte nur ein langes griechisches Wort: "Acheiropoieton. Das soll ich dir sagen."

Er, sagte der Alte, sei ein ungebildeter Mensch, er verstünde nur sehr einfaches Griechisch. Was der Bischof denn meine?

"Das Vera Ikon," erwiderte der Bischof. "Davon wirst du doch schon einmal gehört haben, oder? Als Christenmensch?"

„Natürlich“, sagte der Alte, das kenne er - das "Bild von Edessa". "Das gestohlen wurde, von den Plünderern aus Venedig, die vor mehr als achtzig Jahren Constantinopolis überfallen haben."

"Genau davon rede ich."

"Ja", sagte der Alte, "wenn wir hier das wahre Bild des Herrn hätten - hier in Tyros, oder auch in Sidon, in Akkon - dann würde man uns schon helfen, da bin ich sicher."

"Deshalb könnte es doch interessant sein, sich für einen neuen Kreuzzug ein solches "Wahres Bild" zu beschaffen, meinst du nicht auch?"

Der alte Färber sah den Bischof überrascht an: "Aber ihr habt dieses Bild. Es ist in Rom, in St. Peter. Der heilige Vater braucht nur die Hand auszustrecken."

"Wir brauchen kein Bild in Rom, wir brauchen es hier. Und es muss ein neues sein, eines, das bisher nicht bekannt war. Wir brauchen etwas, für dessen Rettung wir die Menschen begeistern können. Etwas, wofür die Fürsten in ihre Schatullen greifen."

"Redet Ihr von einer Fälschung?" fragte der Alte. "Das würde doch nichts bringen, solange das "Wahre Bild" in Rom gezeigt wird. Wieso sollte man denn ein zweites in Tyros retten wollen? Gar nicht davon zu sprechen, dass zwei weitere Städte behaupten, das Bild zu besitzen: Genua und Paris. Jedenfalls habe ich das so gehört. - Und dann: Was könnte dabei meine Rolle sein? Ich bin Färber, ein bescheidener Handwerker, kein Künstler, kein begnadeter Maler. Und ein Fälscher schon gar nicht."

"Und doch hören wir von allerhöchster Stelle, dass du, genau du, der Einzige wärst, der unserer Kirche in dieser Sache vielleicht weiterhelfen könnte. Wie und warum - das sagte man mir nicht. Kannst du mir das erklären?"

Plötzlich wirkte der Alte angespannt, sehr aufmerksam. "Man hat Euch Namen genannt? Meinen?"

"Ja, deinen. Und den eines Färbers, der ein Verwandter von dir sein soll." Er nannte den Namen. "Ich soll dich erinnern an das Versprechen, das dieser dem Patriarchen von Constantinopolis gegeben hat – wohl schon vor einiger Zeit."

Der Alte schaute ihn lange an. "Ja", sagte er langsam, "vor einiger Zeit, das kann man so sagen. Fast 750 Jahre ist das her."

"So lange? Aber das wäre ja ..." begann der Bischof.

"Ja", unterbrach ihn der Alte, "das war zu der Zeit, als das Bild von Edessa gefunden wurde...” Und dann, mit einiger Schärfe in der Stimme: "Ihr könnt den Namen meines Vorfahrens eigentlich nur in Constantinopolis gehört haben. Ihr aber kommt aus Rom. Könnt Ihr das erklären?“

Der Bischof konnte sein Erstaunen nur schwer verbergen: Plötzlich stand da ein ganz anderer Mensch vor ihm - immer noch alt, immer noch in Lumpen gekleidet. Aber die demütige, schüchterne Haltung war völlig abgefallen. Mit einem Mal lag Spannung über dieser Zusammenkunft. Hier werden Geheimnisse enthüllt, schoss es ihm durch den Kopf. Von diesem stinkenden, in Lumpen gehüllten alten Färber, der sich plötzlich gebärdete wie ein Kirchenfürst? Der ihm peinliche Fragen stellte?

"Es gibt", begann der Bischof vorsichtig, " - oder besser gesagt, es gab durchaus gute Beziehungen zwischen den Spitzen der beiden Kirchen. In dieser Zeit kam es zum Austausch von Informationen."

"Und diese Information, die Euch hierher geführt hat, kam von einem Patriarchen, der inzwischen im Kerker sitzt. In Bithynien?"

Der Bischof nickte. "Johannes Bekkos."

"Ja, das hört sich logisch an. Dann darf ich Euch weitere Informationen in dieser Sache geben." Der Alte sah den Bischof nachdenklich an.

"Was weisst du denn über das Bild von Edessa? Und was hat dein Vorfahre damit zu schaffen gehabt?"

"Nun", gab der Alte zurück, "um es ganz einfach zu sagen: Er hat es gemacht, im Auftrag des Bischofs von Edessa. Das war im Jahr 543."

"Du musst wahnsinnig sein, so etwas zu behaupten", keuchte der Bischof, fassungslos. "Für derart ketzerisches Gerede kannst du brennen! Das Vera Ikon ist ein göttliches Wunder, der Herr selbst hat es gemacht! Und er hat es den Gläubigen in einer Zeit großer Not geschenkt!"

"Das ist richtig", entgegnete der Färber ruhig. "Dem Herrn in seiner Weisheit hat es gefallen, meinen Vorfahren als Werkzeug zu gebrauchen."

"Ist das wahr? Und wie sollte das zugegangen sein?"

"Das darf ich Euch nicht sagen, das berührt Geheimnisse meiner Zunft. Nur soviel: Er hat das Bild von Edessa gemacht - und einige andere. Gelenkt vom Herrn, im Auftrag der Kirche. Und er hat dieses Geheimnis weitergegeben - innerhalb seiner Sippe."

"Aber dann wäre das heilige "Vera Ikon", das Bild von Edessa eine Fälschung, ein ungeheurer Betrug - und eine Lüge!"

"Nein, keine Lüge. Denn es heißt "Vera Ikon", und nicht "Vera Ikon Dominicus". Es ist ein "Wahres Bild", aber es zeigt nicht Jesus, unseren Herrn. Und es ist ein "acheiropoieton", auch das ist wahr, denn es wurde nicht gemalt oder gezeichnet. - jedenfalls nicht von eines Menschen Hand."

"Und doch behauptest du, dein Vorfahr hätte es gemacht?"

"Ja, mit der Hilfe Gottes. Wie er es gemacht hat, ist das unveräusserliche Geheimnis meiner Zunft und Sippe."

"Aber du weisst, wie es gemacht wurde?"

"Das Geheimnis ist bis auf mich gekommen. Und bevor ich sterbe, werde ich es an meinen Enkel weitergeben, den ihr hier seht."

 

"Das muss untersucht werden", sagte der Bischof lauernd. "Ich werde dich festnehmen und nach Rom schaffen lassen. Dort wirst du gestehen - unter der Folter, wenn es sein muss. Vor den Kardinälen!"

"Dieselben, die Euch den Namen meines ketzerischen Vorfahrens für mich mitgegeben haben?", fragte lächelnd der alte Färber.

 

Der Bischof dacht lange nach. "Ich will keinen Fehler machen - ich glaube, in dieser Angelegenheit weiß jeder mehr als ich. Und das gefällt mir nicht."

"Und ich will Euch keine Schwierigkeiten machen. Eure Herren haben Euch hierher gesandt, damit ich und meine Färber Euch helfen. Und das wollen wir auch tun - nur glaube ich, dass die Hilfe, die Ihr von uns erwartet, keinen Nutzen bringen wird."

"Das kannst du beurteilen?"

"Ja. Und ich habe Euch den Grund auch schon genannt. Die Christen im Abendland werden uns keine Unterstützung schicken, nur um das Vierte, angeblich echte und einzige Schweisstuch Jesu vor den Barbaren zu retten. Und ihr wisst, dass ich Recht habe."

Der Bischof sackte auf seinem Stuhl zusammen, drehte den Kopf und sah an dem Alten vorbei zu den westlichen Fenstern. "Dann bin ich umsonst gekommen."

"Nicht unbedingt. Ich habe da eine Idee, die uns weiterhelfen könnte“. Der Alte überlegte, sah dem Bischof in die Augen: „Ich muss Euch das nicht fragen, Ihr seid ein Kirchenmann, Ihr kennt die Evangelien. Aber was haltet Ihr von den Abweichungen im Johannes- Evangelium, da, wo es um den Inhalt des leeren Grabes geht?"

"Was meinst du damit?"

"In den Evangelien von Lukas, Markus und Matthäus lest ihr fast nichts vom Inhalt des Grabes. Einmal ist da ein Engel, oder auch zwei, einmal sieht ein Jünger leinerne Tücher im Grab. Anders bei Johannes. Da gibt es auch Engel, aber bevor diese auftauchen, gehen Simon Petrus und noch ein Anderer in das Grab und berichten, was sie vorfinden."
Er zitierte aus dem Gedächtnis:
"Da kam Simon Petrus ihm nach und ging hinein in das Grab und sieht die Binden gelegt und das Schweisstuch, das Jesus um das Haupt gebunden war, nicht zu den Binden gelegt, sondern beiseits, zusammengewickelt, an einem besonderen Ort."

"... das Schweisstuch, beiseits, zusammengewickelt, an einem besonderen Ort ..." wiederholte der Bischof.

"Ja, genau. Diese abweichende Beschreibung wurde nach 544 eingefügt. Um die Herkunft des Edessa-Bildes zu erklären. Das Bild, das mein Vorfahr gemacht hat."

"Aber man sagt doch, dass die Heilige Veronika Jesus ihr Schultertuch gereicht hat, damit Er sich den Schweiss abwischen konnte auf Seinem Weg nach Golgata! Und dass dann Sein Bild auf dem Tuch erschienen sei ..."

"Diese Geschichte hat das Volk gerührt und deshalb hat sie sich durchgesetzt. Und die Kirche ist dem Verlangen der Strasse gefolgt und hat Veronika, eine Frau, die nie gelebt hat, heilig gesprochen. Aber da stand die andere Version schon geschrieben im Johannes-Evangelium - und es wäre etwas auffällig gewesen, sie wieder zu entfernen."

"Mein Gott, wenn man dir glauben wollte! Lügen und Betrug ohne Ende! Und alle begangen von unserer Mutter Kirche! Und zum guten Schluss leugnest du die Existenz einer Heiligen! Du lebst wirklich nahe beim Scheiterhaufen!"

"Der Name der Frau mit dem Schweisstuch soll nach den ältesten Überlieferungen Berenike gelautet haben. Veronika ist nichts weiter als eine Umsetzung von "Vera Ikon" - zu Veronika - die mit dem Wahren Bild. Dafür kann ich nichts, ich habe nicht gelogen – so wenig wie ihr. Aber es wurde gelogen. Und diese Lügen geben uns jetzt die Möglichkeit eine weitere Sünde zu begehen, um die Christen in unserem Land vor der Vertreibung und dem Tod zu retten. So, wie das schon mehrfach getan wurde."

"Was meinst du damit?"

"Wie wurde das Edessa-Bild entdeckt? Während einer Belagerung, als die Not am grössten war. Und kein Entsatz zu erwarten. Der Bischof hatte eine Vision, sie brachen das Bild aus der Mauer, die Menschen bejubelten es, rissen die Stadttore auf und jagten die Perser zum Teufel. Und ihr wisst, dass sich genau dasselbe im Jahr 1098, in Antiochia, mit der heiligen Lanze wiederholt hat!"

"Alles Betrug? Und der Zweck heiligt die Mittel?"

"Das weiss ich nicht. Davon verstehe ich nichts. Ich weiss nur: Ihr und ich, wir haben die Möglichkeit unseren Glaubensbrüdern und Mitmenschen das Leben zu retten. Dafür lüge und betrüge ich jederzeit. Wenn das eine Sünde ist, bin ich bereit, sie zu begehen."

 

"Und welcher ... Betrug könnte uns retten?"

"Ich kenne das Geheimnis der "Wahren Bilder". Ich kann sie machen. Und ich kann mehr fertig bringen als ein weiteres Schweisstuch. Ich kann etwas herstellen, von dem alle vier Evangelisten übereinstimmend berichten. Eine Reliquie, die so mächtig ist, dass ein neuer Kreuzzug zu ihrer Rettung keine Option, sondern eine Selbstverständlichkeit wäre."

"Und was für eine Reliquie wäre das?"

"Das Tuch, das Josef vom Arimathia gekauft hat. Das Grabtuch unseres Herrn. Auf dem sich Sein Schatten eingebrannt hat, als er zum Himmel aufgefahren ist."

Der Bischof starrte den Färber fassungslos an.

*

Im Jahr 1187 war Jerusalem, zusammen mit fast allen anderen bedeutenden Städten von den Sarazenen erobert worden. Das “Königreich Jerusalem” hatte nicht nur seine Hauptstadt verloren, es hatte fast aufgehört zu existieren. Das stark befestigte Tyros war sein letzter Brückenkopf.

Richard Löwenherz eroberte den Christen von 1189 bis 1192 ihr „Heiliges Land“ zurück. Akkon wurde zum Königssitz und zur Hauptstadt des Königreichs.

Um 1290 herum hatte dieses, am Meer gelegene Akkon etwa 40.000 Einwohner und war der kulturelle wie auch wirtschaftliche Brennpunkt von "Outremer", wie das heilige Land zu dieser Zeit auch genannt wurde.

Akkon war stark befestigt. Eine doppelte, turmgekrönte Mauer von fast zwei Kilometer Länge schirmte es in seiner strategisch günstigen Lage auf einer Halbinsel vom Festland ab. Nur Tyros, ähnlich und auch an der Küste gelegen, etwa 50 Kilometer nördlich von Akkon, war noch besser befestigt. 1124 hatten Kreuzfahrer die Stadt erobert und die Befestigungen ausgebaut. Seitdem hatte es jedem Angriff standhalten können - selbst Saladins Truppen hatte es zweimal getrotzt.

Und das war die Geschichte vom “Heiligen Land”, von Outremer, wie er sie in den Geschichts- büchern fand: Kreuzzüge, blutige Schlachten, Mord und Heldentum. Aufopferung und kaltes Kalkül, Geschäftemacherei, Betrug, Verrat und Untergang. Die Handelnden in diesem Stück waren Könige und Ritter, Bischöfe und Fürsten.
"Gott will es!" war ihre Parole und ihr Schlachtruf. Die unter ihnen und ihrem Wahnsinn Leidenden wurden nur in großen Zahlen erfasst: Gefallene, Ermordete, Versklavte, Vertriebene.

In seinem dreibändigen Werk “Die Geschichte der Kreuzzüge” schreibt Sir Stephen Runciman auf 1590 Seiten gerade mal 20 Zeilen über das Leben der arbeitenden Menschen in Outremer. Diese zwanzig Zeilen beginnen mit dem Satz: “Über die Betätigung der bürgerlichen Bevölkerungsschichten in Outremer wissen wir nur sehr wenig”.

*

Der Bischof bat den Färber, am nächsten Tag wieder zu kommen. Er wollte nachdenken. Es war zu viel gewesen, was da auf einmal auf ihn eingestürzt war. Und mit welcher Logik, welcher Konsequenz. Er wusste einfach, dass der Alte nicht gelogen hatte, kein einziges Mal. Das hatte dieser Kerl gar nicht nötig. Alles, was er erzählt hatte, war logisch in sich, erklärte die Fakten viel besser, als die frommen Geschichten, die er dazu kannte.
Und wie einfach und direkt er das ausdrückte. Und wie konsequent: "Dafür lüge und betrüge ich jederzeit. Wenn das eine Sünde ist, bin ich bereit, sie zu begehen."

Nein, der Alte sagte die Wahrheit. Das wusste er einfach. Und vielleicht würde er es bald auch zu sehen bekommen? Das Leichentuch des Herrn! Mit seinem eingebrannten Bild! War das genial oder blasphemisch? Wahrscheinlich beides zugleich.

Er würde nach Zypern zurückfahren, und einen Boten nach Rom schicken. Das sollten die Oberen der Kirche entscheiden, das war zu gross für einen wie ihn.
Andererseits hatten sie ihm gesagt: "Tu, was du für richtig hältst. Wenn er einen guten Vorschlag hat, dann geh´ darauf ein. Wir stehen mit dem Rücken an der Wand." Und mit irgend etwas in dieser Richtung mussten sie ja gerechnet haben, wenn er die finsteren Andeutungen bedachte, mit denen er hierher geschickt worden war ...

Plötzlich zuckte er zusammen, als ob er geschlagen worden wäre: Wenn man in Europa zum Kreuzzug aufrufen würde - und man könnte den Menschen die Rettung des "Grabtuchs des Herrn" in Aussicht stellen ... Er schüttelte fassungslos den Kopf - auch hier hatte der Alte Recht: Weder an Geld noch an Menschen würde es mangeln.

Das Wichtigste war jetzt: keine Zeit zu vergeuden. Er würde hier bleiben, mit dem Alten weiter verhandeln und gleichzeitig einen Boten nach Rom schicken. Wenn den Kardinälen dieser verrückte Plan dann zu riskant war, konnte er das Ganze immer noch abblasen. Und auf diese Weise konnte ihm auf keinen Fall ein Vorwurf gemacht werden.

*

Der Alte ging mit seinem Enkel in Richtung des Stadttores. Der Junge stellte seinem Grossvater keine Fragen - er wusste, er würde alles erfahren, was der Alte zu sagen hatte. Dazu musste er ihm nur Zeit lassen.

"Hältst du den Bischof für einen dummen Menschen?" fragte der Alte plötzlich.

"Ich weiss nicht, antwortete der Junge. Du weisst sicher sehr viel mehr als er, und" - dabei lächelte er - "du hast ihn ganz schön dumm aussehen lassen."

"Ja, aber das war nötig. Und dumm ist er sicher nicht. Er hat nur zu wenig Informationen. Und heute hat er ein paar bekommen, von denen er eigentlich gar nichts wissen wollte. Aber trotzdem: So wie er sollten Priester sein. Sie sollten an die frommen Geschichten glauben, die sie den Menschen erzählen."

"Wir glauben nicht daran?"

"Wir sind Handwerker. Wir arbeiten mit unseren Händen. Was wir wollen und brauchen erhalten wir nicht durch wünschen oder durch Gebete. Wir arbeiten dafür. Wir glauben, was wir sehen können. Wir kennen die Wahrheit."

"Das ist alles wahr, was du ihm erzählt hast?"

"Selbstverständlich - und er hat das auch verstanden. Sonst wäre ich jetzt auf dem Weg nach Rom. In Ketten."

"Und wie hat unser Vorfahre das Vera Ikon gemacht?"

"Er war ein Erfinder. Er hat unsere Kunst so weit entwickelt, wie kein anderer vor ihm. Einfach, indem er alles ausprobiert hat, was sein Geist ihm eingab. Und er war ein Gelehrter. Er konnte lesen. - Aber vor allem war er ein sehr genauer und geduldiger Beobachter. So hat er entdeckt, wie man Bilder wie das Vera Ikon machen kann".

"Und was hat er beobachtet?"

Der Alte lächelte. "Wie eine Feder auf ein Stück Tuch gefallen ist."

*

Die Recherche verlief interessant. Zu den Themen "Grabtuch" und "Heiliges Land" fand er sehr viel Material. Aber was er über die antike Purpurfärbung herausfinden konnte, ließ sich in wenigen Zeilen zusammenfassen:

Tyros war das technische Zentrum der Purpurfärberei. Hoch spezialisierte Handwerker färbten Tuch mit einer Farbküpe, die aus Meerschnecken gewonnen wurde. Sie waren in Familienverbänden oder in grösseren staatlich kontrollierten Manufakturen organisiert - aber der Handel mit ihrem Produkten, den mit Purpur gefärbten Stoffen, war den Herrschenden vorbehalten.

Die Kunst dieser Färber war uralt. Und die Färber hielten ihre Fertigkeiten anscheinend geheim: Fast alles, was über die Hintergründe ihrer Kunst überliefert wurde, ist unvollständig, ungenau oder falsch. Man kann annehmen, dass der Umgang mit diesen Handwerksgeheimnissen von jeher streng überwacht wurde – so, wie das aus anderen Bereichen im Handwerk bekannt ist. Verrat wurde hart bestraft: Von der eigenen Zunft, aber auch von der jeweils herrschenden Obrigkeit. Es gibt Quellen, die behaupten, dass es Epochen gab, in denen der Staatshaushalt zum überwiegenden Teil von den Einnahmen aus dem Purpur-Handel abhängig war.

Ein logischer Schluss aus diesen Informationen war, dass die Färber ein Generationen-übergreifendes System der Weitergabe dieser Geheimnisse gehabt haben mussten. Und die Anfänge ihres Handwerks reichten bis ins 15. vorchristliche Jahrhundert zurück. Zum Zeitpunkt der wissenschaftlichen Datierung des Grabtuches war dieses Handwerk also mindestens 2700 Jahre alt.

Mit Purpur gefärbte Stoffe waren ungeheuer wertvoll. Die Farbe konnte, wenn sie erst einmal auf die Faser aufgezogen war, nicht mehr entfernt werden. Sie bleichte in der Sonne nicht aus und sie verblasste auch nicht beim Waschen. Sie war "ewig". Das konnte man zu dieser Zeit von keinem anderen Färbeverfahren auch nur in Ansatz behaupten.

Und wenn es einen wertsteigernden Begriff jenseits von “Purpur” gab, dann war das “Tyrennischer Purpur”. Die Färber der Manufakturen in Tyros verbesserten und erweiterten das Verfahren laufend. Es wird behauptet, dass sie einen viel weiteren Farbkanon darstellen konnten, als die Färber an anderen Orten. Diese beherrschten normalerweise nur die Grundfarbe des Stoffes, ein schönes Magenta, dicht bei Altrosa angesiedelt, in verschiedenen Helligkeitsstufen. Den Färbern von Tyros wird nachgesagt, dass sie Töne von hellem Rosa bis zu fast schwarzem Amethyst-Blau hervorbringen konnten.

(...)

 

Hier folgt ein Exposee über das Manuskript “PURPUR - Die Farbe des Lichts”:

Erstes Buch: Artefakt

Ein Fotograf stösst beim Schreiben eines Vorlesungsmanuskripts auf ein paar merkwürdige Zusammenhänge. Ein offenkundiger Fehler im Brockhaus stoppt ihn beinahe – macht die Sache aber noch spannender. Er beginnt eine Recherche, die sich schnell als sehr interessant herausstellt: Das Turiner Grabtuch, die wichtigste Reliquie der Christenheit ist eine Fälschung. Was schon oft vermutet wurde, meint er beweisen zu können. Und: Das Grabtuch hatte Vorläufer, geheimnisvolle „nicht von Menschenhand gemachte Bilder“.

Er recherchiert die geschichtlichen Hintergründe der Zeit, in der das Grabtuch seiner Meinung nach entstanden ist. An diesem Punkt tritt die Erzähl-Ebene des Fotografen in den Hintergrund und auf einer zweiten Zeitschiene, beginnend im Jahr 1290, wird die Geschichte der raffiniertesten Fälschung aller Zeiten erzählt.

Ein Bischof, beauftragt vom Kardinalskollegium in Rom, ein alter Purpur-Färber aus Tyros und sein 15-jähriger Enkel sind die Hauptpersonen der Geschichte.

 

Zweites Buch: Vera Ikon

Die Vorbereitungen sind abgeschlossen, die Fälscher machen sich ans Werk. Sie haben es eilig – und es eilt auch ihren Auftraggebern: Krieg bedroht das Königreich Jerusalem. Es gibt Gerüchte, dass in Kairo ein riesiges Heer zusammengestellt würde, das in wenigen Wochen gegen die Hauptstadt des „Heiligen Landes“, Akkon, ziehen soll. Die „Reliquie“ soll dazu verwendet werden, die europäischen Mutterstaaten zur Hilfe zu zwingen. Ein neuer Kreuzzug soll ausgelöst werden - zur Rettung des „Grabtuch des Herrn“. Doch es gibt eine Menge Hindernisse und Schwierigkeiten zu überwinden.

In diesem Teil der Geschichte wird die Vorgehensweise der Fälscher genau beschrieben und der technische, physikalische und chemische Hintergrund erklärt, der den Menschen dieser Zeit zur Verfügung stand. Am Ende dieses Teils der Geschichte steht ein fast fertiges “Turiner Grabtuch“ und der Aufmarsch der grössten Armee, von der die Geschichtsschreibung des Mittelalters weiss.

 

Drittes Buch: Illusionen und Verlust

Akkon wird von fast 200.000 ägyptischen Mamluken angegriffen und fällt nach einer fünf- wöchigen Belagerung. Das Tuch geht verloren, der alte Färber wird vermisst und sein 15-jähriger Enkel muss auf sich selbst gestellt in der belagerten Stadt zurechtkommen. Er überlebt den Sturm, kann übers Meer nach Famagusta auf Zypern fliehen. Etwa 50.000 Menschen, mehr als die Hälfte davon Zivilisten, kommen während der Belagerung und der Erstürmung der Stadt Akkon ums Leben.

Im Jahr 1355, 64 Jahre nach dem Untergang des „Heiligen Landes“, kommt ein alter Mann nach Lirey in Frankreich, wo seit einigen Monaten das „Grabtuch Jesu“ in der Dorfkirche ausgestellt wird. Hier schliesst sich der Kreis - und hier beginnt die bekannte Geschichte des „Turiner Grabtuches“.

 

Viertes Buch: Purpur – die Geschichte einer Recherche

Im letzen Teil des Buches schildere ich den Verlauf der Recherche, die mich auf die Spur dieser Fälschung und ihrer Vorgänger gebracht hat; warum 100 Jahre wissenschaftlicher Untersuchungen bis heute nicht zur Aufklärung geführt haben und wie ich mir die Lösung des Rätsels vorstelle.

Außerdem beschreibe ich meine chemischen und physikalischen Versuche, die ich mit dem Material der Purpurfärber, den Schnecken der Art Murex brandaris angestellt habe. Zum Schluss verfolge ich die Spur der „Acheiropoieta“, der „nicht von Menschenhand gemachten, wahren Bilder“ bis ins Jahr 2006, bis in den Vatikan hinein.

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