Seit 650 Jahren ist das Turiner Grabtuch ein Objekt religiöser Verehrung, seit etwa 100 Jahren wird es wissenschaftlich untersucht. Seit 20 Jahren verdichten sich die Hinweise, dass es sich um eine Fälschung handelt. Aber es hat bis heute sein zentrales Geheimnis nicht preisgegeben: Wie wurde es hergestellt? Wer hat es gemacht?
Und vor allem: Warum können wir diese einfachen Fragen mit dem ganzen technischen und wissenschaftlichen Apparat, der uns im 21. Jahrhundert zur Verfügung steht, immer noch nicht beantworten?
Jetzt sieht es so aus, als könnte das Rätselraten ein Ende haben. Eine neue These steht im Raum: Das Grabtuch, angefertigt im Auftrag der Kirche von hoch- spezialisierten Handwerkern, im Mittelalter, im "Heiligen Land": Eine Fälschung, die 650 Jahre lang unaufgeklärt blieb.
Hier ist die neue, kurzgefasste Geschichte des Grabtuches und seiner Vorläufer. Es ist gleichzeitig ein Teil der Geschichte der Fotografie, die mit einer Lüge begann.
In der zweiten Hälfte des sechsten Jahrhunderts tauchten im Byzantinischen Reich Tuch- Bilder auf, die angeblich das Gesicht Jesu zeigten und von denen behauptet wurde, sie seien nicht gemalt. Diese Bilder wurden als "Acheiropoieta" (griechisch für "nicht von Menschenhand gemacht") und "Vera Ikon" (lateinisch/griechisch für "Wahres Bild") bezeichnet. Darüber hinaus waren diese Bilder angeblich vervielfältigbar: Es wurde behauptet, dass sich das Bild unter bestimmten, nicht näher beschriebenen Umständen bei Kontakt auf ein anderes Stück Stoff kopierte.
Diese Bilder galten als "von Gott gemacht". Sie waren wertvolle Zeugnisse des Wohlwollens Gottes, wurden in Kriegen als Feldzeichen gebraucht, ja, es wurden Kriege um sie geführt. Sie waren die Vorläufer und Vorbilder der späteren Ikonen.
Von diesen „Wahren Bildern“ des sechsten Jahrhunderts hat vermutlich keines die Zeiten überdauert. Wie sie ausgesehen haben wissen wir in etwa, weil sie immer wieder auf Ikonen und in sogenannten „Veronika- Bildern“ wiedergegeben wurden. (In der linken Spalte finden Sie vier Links zu solchen Gemälden.)
Das Turnier Grabtuch kann als von diesen "Wahren Bildern" inspiriert betrachtet werden - tatsächlich stellt es eine Art Weiterentwicklung dieses "Bild-Prinzips" dar.
Im Vergleich mit anderen Reliquien hält das Grabtuch eine Sonderstellung: Es wird als Reliquie betrachtet, weil es angeblich das Leichentuch Jesus Christus war, und damit eine sogenannte Sekundärreliquie. So werden Gegenstände bezeichnet, die ein Heiliger besessen oder berührt hat - im Unterschied zu Primärreliquien, womit körperliche Überreste der Heiligen selbst gemeint sind. Anders als herkömmliche Sekundärreliquien zeigt das Grabtuch aber Spuren dieses Körperkontakts mit einem Gott - das Bild. Das macht das Grabtuch einmalig unter den Reliquien.
Deshalb galt es Vielen 650 Jahre lang als göttliches Wunder und als sichtbarer Beweis der Leiden Jesu. Wer auch heute noch daran glauben möchte, hat ein gewisses Problem: die wissenschaftliche Forschung. Um hier nur einen Aspekt herauszugreifen: Eine Radio- Karbon-Datierung von Fasern des Tuches ergab 1988, dass der Flachs, aus dem das Tuch gewoben ist, irgendwann zwischen 1260 und 1390 geerntet worden war.
Danach musste man davon ausgehen, dass es sich bei dem Tuch um eine Fälschung handelt.
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Nach dieser Radiokarbon- Datierung erklärte ein wissenschaftlicher Berater des Vatikans: "Das echte Problem des Grabtuches ist nicht zu wissen, ob es aus dem ersten Jahr- hundert oder aus dem Mittelalter stammt, sondern zu begreifen, wie das Bild und die Blutflecken auf dem Tuch zustande gekommen sind. (...) Wie hätte man eine Oxidation auf jeder einzelnen Faser mit dieser typischen Intensitätsverteilung herstellen können?"
Damit hatte er das Problem klar umrissen. Denn bis heute kann niemand erklären, wie das Bild auf dem Grabtuch zustande gekommen ist. Damit ist es ein Wunder, das die Kirche nicht nur behaupten, sondern buchstäblich auf den Tisch legen kann. Das aber nur so lange ein Wunder bleibt, bis es nachvollziehbar erklärt wird.
Das Bild auf dem Grabtuch ist kein Abdruck, sondern eine Projektion. Das kennen wir so nur von der Malerei oder der Fotografie. Darüber hinaus ist es eine invertierte Darstellung - das heisst, die Hell- und Dunkel-Werte des Bildes sind vertauscht. Solche Erscheinungen im bildlichen Bereich kennen wir nur vom fotografischen Negativ.
Es gibt keinerlei Beispiele für invertierte Malerei. Kunstexperten und Künstler bestreiten, dass so etwas möglich sei. Daraus muss man schliessen, dass das Bild auf dem Grabtuch mit hoher Wahrscheinlichkeit durch einen fotografischen Effekt zustande gekommen ist. Dann stellt sich die Frage, ob das zur angenommenen Zeit - Ende des 13. oder Anfang des 14. Jahrhunderts - technisch überhaupt möglich war. Um fotografieren zu können, braucht man eine Kamera und lichtempfindliches Material.
Ein Problem für die angenommene Zeit eine Kamera nachzuweisen, gibt es dabei nicht: Die Lochkamera war schon um 300 vor Christus bekannt, um das Jahr 1000 herum könnte es frühe Experimente mit einer Linsenkamera gegeben haben.
Bleibt das Problem des lichtempfindlichen Materials. An dieser Stelle endeten alle bisherigen Erklärungsansätze: Lichtempfindliches Material, das zur Herstellung foto- grafischer Bilder geeignet gewesen wäre, war im 13. oder 14. Jahrhundert nicht bekannt.
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Einer der engagiertesten Forscher in diesem Bereich ist der südafrikanische Kunst- Professor Nicholas Allen. Er versucht seit mehr als 20 Jahren nachzuweisen, dass es mit den im 13. Jahrhundert zur Verfügung stehenden Mitteln möglich gewesen war, das Bild mit lichtempfindlichen Substanzen auf dem Tuch zu erzeugen. Aber selbst wenn ihm das gelingen würde, blieben weitere wichtige Fragen offen:
Warum wissen wir nichts von lichtempfindlichem Material im Mittelalter? Wer hatte die Kenntnis zu dieser Zeit, mit solchen Materialien umzugehen? Weshalb sollte eine solche Fälschung überhaupt angefertigt worden sein?
Jetzt sieht es plötzlich so aus, als ob diese Fragen beantwortet werden können. Der Schlüssel dazu ist:
Purpur
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