Auf dieser Seite greife ich einzelne Aspekte meiner Recherche noch einmal auf und setze sie in Beziehung zum historischen Hintergrund des angenommenen Zeitraums.
Ein "wunderbares Bild" auf einem Tuch. Entstanden zu einer Zeit, als versierte Handwerker – Tuchfärber! - mit lichtempfindlichem Material umgingen. Und Untersuchungen ergaben, dass es sich bei dem Bild auf dem Tuch um eine Projektion handelt, die als Negativ wiedergegeben ist. Das konnte einen Fotografen schon nachdenklich machen.
Ein Problem mit der Kamera und den Kenntnissen der Optik zur angenommenen Zeit gibt es nicht: Die einfache Lochkamera wurde schon 300 vor Christus von Aristoteles beschrieben. Um das Jahr 1000 verfasste der arabische Physiker und Mathematiker Abu Ali al-Hassan Ibn al-Hassan Ibn al-Haytham in Kairo seine "Grosse Optik". Er beschreibt ausführlich und zutreffend die Funktionsweise der Lochkamera, des Lese- steins, des menschlichen Auges. Er beschreibt die vergrößernde Wirkung von Bi-Konvex- Linsen und experimentiert mit Hohlspiegeln. Außerdem räumt er mit einigen schwer- wiegenden Irrtümern der damaligen Wissenschaft auf: Er erkennt, dass das Auge keine Strahlen aussendet, um zu sehen, sondern dass von Lichtquellen ausgehende Strahlen von Gegenständen reflektiert werden und, wenn sie dann in das Auge gelangen, dort Bilder erzeugen.
Und seine Leistungen werden auch im Westen wahrgenommen: "Es ist kein Geheimnis, dass jenes sprunghafte Anwachsen der optischen Kenntnisse, das wir in den Werken der Oxforder Schule verfolgen können, weitgehend durch die Kenntnis arabischer Quellen, vor allem der optischen Leistungen des Ibn al- Haytham, bedingt ist." (1)
Die Gelehrten dieser Schule in Oxford hatten einfach vergessen mitzuteilen, woher sie ihre Erkenntnisse hatten. Und auch deshalb ist bis heute weitgehend unbekannt, auf welches Wissen die Menschen zu dieser Zeit im arabisch-byzantinischen Raum Zugriff hatten.
Warum hatten die Färber ihre Erfindung der autografischen Bilder nicht öffentlich gemacht - im sechsten Jahrhundert oder auch später? Warum diese Geheimniskrämerei? Warum stellten sie diese unglaubliche Erfindung ausschliesslich der Kirche zur Verfügung?
Die Antwort darauf ist einfach und naheliegend. Weil sie Handwerker waren, die ihr Zunftgeheimnis bewahren mussten - und es zu diesem Zeitpunkt schon 2000 Jahre lang erfolgreich bewahrt hatten. Wenn es zutraf, wie manche Chronisten schreiben, dass sich der byzantinische Staatshaushalt zu einem nicht unwesentlichen Teil auf die Einnahmen aus dem Purpurhandel stützte, dann wäre ein Verrat dieses Geheimnisses wahrscheinlich als Verbrechen gegen den Staat geahndet worden.
In der Geschichte des Handwerks gibt es viele Beispiele für diese Art von Protektionis- mus. Die Geheimnisse des griechischen Feuers oder das des Damaszenerstahls sind bis heute nicht geklärt. Bis 1708 kannte niemand ausserhalb der chinesischen Manufakturen das Herstellungsgeheimnis des Porzellans. Die Strafen für Verrat im handwerklich-technischen Bereich waren meist drakonisch.
Die Färber hätten keine Wahl gehabt: Wenn sie mit ihrer Entdeckung, wie man autografische Bilder machen kann an die Öffentlichkeit gegangen wären, hätten sie dieses Staatsgeheimnis, die Lichtempfindlichkeit des Purpurs, preisgeben müssen. Denn auch im frühen Mittelalter war es äusserst verdächtig, wenn einer etwas Wundersames tat, ohne erklären zu können - oder zu wollen - wie er das fertig brachte. Davon ausgenommen war nur die Kirche. Also taten sie wohl das einzig Vernünftige in dieser Situation: Sie wandten sich an den, der das Monopol auf Wunder hielt und der im Ernstfall mit dem Finger auf sie gezeigt hätte: Sie gingen zur Kirche und offenbarten dem Bischof, dem Metropoliten, dem Patriarchen, dass es Gott in seiner Weisheit gefallen habe, ihnen eine ganz besondere Kunstfertigkeit zu schenken. Und die Kirche nahm dieses Geschenk aus zweiter Hand wohlwollend an, verordnete aber Verschwiegenheit. Darin hatten die Färber ja Übung
Das Modell für die Fotografie konnte nur eine entsprechend präparierte Leiche gewesen sein. Zum Beispiel ein in Gefangenschaft geratener Ritter, der gekreuzigt worden war. Vielleicht, weil niemand ein Lösegeld für ihn bezahlen wollte - oder aus purer Grausamkeit. Kreuzigungen haben im Nahen Osten eine lange Tradition. Tatsächlich soll diese Hinrichtungsform von den Phöniziern erfunden worden sein. Es wird berichtet, dass Alexander nach der Eroberung von Tyros 332 v.C. diesen schrecklichen Tod für 2000 tyrische Bürger befohlen habe. Und während der Kreuzzüge waren Kreuzigungen von Christen offenbar an der Tagesordnung. Ab 1265, dem Beginn der Säuberungsaktionen der Mamluken im heutigen Syrien, müsste es eine grössere Auswahl derartig zugerichteter Leichen gegeben haben. Ein solcher Körper hätte nur wenig verändert werden müssen, um als glaubhaftes Modell für eine "Grabtuchfotografie" herhalten zu können. Es wäre aber auch ohne Weiteres denkbar, dass ein im Kampf Gefallener für diese Rolle präpariert worden war - von Leuten, die sich mit Kreuzigungen bestens auskannten.
Auch das sogenannte Kronenproblem, das als wichtiges Argument der Echtheits- Befürworter gilt, kann einfach erklärt werden: Eine Krone war - aus mitteleuropäischer Sicht - eine reifförmige Krone. Im Bereich der Ostkirche und damit im Nahen Osten waren Königskronen aber fast immer haubenförmig. Abbildungen, die Christus am Kreuz zeigen und auf denen er eine Dornenkrone in Haubenform trägt, waren in Mitteleuropa so gut wie unbekannt. Sollte das Tuch also gefälscht sein, woher hätten die Fälscher dann wissen können, dass Christus mit hoher Wahrscheinlichkeit tatsächlich eine Dornenhaube getragen hatte? Die Blutspuren auf dem Grabtuch sprachen eindeutig dafür, dass dem Toten eine Dornenhaube aufgesetzt worden war - und keine reifförmige Krone. Woher hätten die Fälscher, die doch nur die zeitgenössischen Bilder als Vorlagen heranziehen konnten, das wissen können? Die Antwort darauf war überraschend einfach: Die Fälscher waren Menschen, für die Kronen im ersten wie auch im dreizehnten oder vierzehnten Jahrhundert selbstverständlich haubenförmig waren. Weil diese Menschen keine Europäer waren. Weil die Fälschung im Nahen Osten angefertigt worden war.
Das eurozentrische Denken der Forscher hatte diese Möglichkeit offenbar nie in Betracht gezogen. Das Grabtuch konnte nur aus dem Nahen Osten kommen, wenn es echt war. Aber eine derart raffinierte Fälschung konnte nur in Europa angefertigt worden sein. Schliesslich war das Tuch in Frankreich zum ersten Mal aktenkundig geworden. Dass der Mann, der es 1355 zuerst präsentierte, zehn Jahre vorher im Bereich des Nahen Ostens unterwegs gewesen war - dort Krieg geführt und sicher auch Beute gemacht hatte - das wurde offenbar nicht zur Kenntnis genommen.
Reliquien waren ein Mittel der Politik, dafür gibt es viele Beispiele. Spätestens seit der Präsentation des Edessa-Bildes in Rom wurden die “Wahren Bilder”, die Acheiropoieta, als Reliquien betrachtet. Als dieses Bild im "heiligen Jahr" 1350 der Bevölkerung zugänglich gemacht wurde, waren mehr als 100 Tote - erdrückt und niedergetrampelt - das Ergebnis des Ansturms der Gläubigen in Sankt Peter zu Rom. Diese Bilder waren Sensationen ihrer Zeit.
Deshalb waren Reliquien auch regelrechte Wirtschaftsfaktoren: Mit ihnen konnte man Märkte beeinflussen, Leute anlocken, Geld locker machen. Handelsrouten wurden verlegt, wenn eine abseits gelegene Kirche mit aufsehenerregenden Relikten werben konnte. Man konnte Kriege mit ihnen auslösen, man konnte die Massen manipulieren. War das Grabtuch zu einem solchen Zweck hergestellt worden? Welchen Zielen sollte es dienen? Eine Schlacht zu gewinnen, einen Krieg? Oder sollte ein neuer Kreuzzug ausgelöst werden? Dass Reliquien gefälscht wurden, ist bekannt. Neu war für mich allerdings, dass die Kirche, unter von ihr bestimmten Umständen, gar nichts gegen solche Fälschungen einzuwenden hatte. (2)
Was eine mögliche Fälschung des Grabtuches anging, war die zentrale Frage: Gab es in der Landschaft der Purpurfabrikation einen Grund für so eine Fälschung? Gab es ihn in dem Zeitrahmen, den die Radio-Karbon-Datierung des Tuches (1260 bis 1390) vorgibt?
Diesen Grund gab es. Jerusalem war 1244 von einem ägyptischen Söldnerheer zurückerobert worden. 1260 wurden die Mongolen bei Nazareth von den Mamluken vernichtend geschlagen. Danach machten sich die Ägypter daran, das “Königreich Jerusalem” von den letzten Christen zu säubern. Dreissig Jahre lang eroberten sie in ihren Frühjahrsoffensiven einen christlichen Stützpunkt nach dem anderen. Wer nicht fliehen konnte, wurde umgebracht. Wer nicht umgebracht wurde, ging in die Sklaverei. Weder aus Rom noch aus Konstantinopel war mit Hilfe zu rechnen.
Dann kamen die Brückenköpfe an die Reihe. Am 18. Mai 1291 fiel Akkon. Tyros kapitulierte am Tag darauf und wurde, wie fast alle Küstenstädte, vollständig zerstört. Sidon folgte Ende Juni und Beirut am 22. Juli. Danach gab es keine bekennenden Christen mehr im "Heiligen Land".
Im Laufe meiner Recherche im Internet bin ich relativ früh auf den "Schleier von Manoppello" gestossen. Unter diesem Namen wurde ein geheimnisvolles Bild bekannt, auf dem sich lebensgross, in braunen Tönen ein Gesicht auf einem durchsichtigen Schleiergewebe zeigt. Dieses Bild wird in der Klosterkirche des Abruzzenortes Manoppello aufbewahrt.
Nach dieser Beschreibung kann vermutet werden, dass es sich dabei um ein Acheiropoieton handeln könnte, um ein "Wahres Bild". Die Bewahrer des Bildes in Manoppello behaupten, dass es das echte “Bild von Edessa” sei. Dieses Bild war von den Truppen des vierten Kreuzzuges im Jahr 1204 in Konstantinopel gestohlen worden und wurde im Anschluss an diesen Kreuzug in Rom, in St. Peter gezeigt.
Als dieser um 1600 herum renoviert und erweitert werden sollte, hängte man das Bild ab und verwahrte es für die Dauer der Arbeiten. Diese waren 1608 abgeschlossen - aber die "Veronika", wie das Bild inzwischen allgemein genannt wurde, war verschwunden, als man es wieder an seinen Platz bringen wollte. Man besorgte sich einen Ersatz, der aber offenbar so schlecht war, dass man ihn nicht mehr öffentlich zeigen wollte. Deshalb wurde das Bild seit damals nur noch einmal im Jahr von einer 20 Meter hohen Balustrade herunter den Kirchenbesuchern präsentiert. Und zumindest die letzte Aussage entspricht wohl den Tatsachen: Niemand hat dieses Ersatz-Bild seither aus der Nähe gesehen.
Mit einer Ausnahme: Paul Badde, dem Vatikan-Korrespondenten des deutschen Springer- Verlages, wurde es im März 2005 kurz aus der Nähe gezeigt. Er durfte es aber nicht fotografieren und seine Beschreibung davon lautet: "Keine Bildspuren sind zu erkennen, gar nichts. (...) Von einem Gesicht oder auch nur der Idee eines Gesichts keine Rede." (3)
Dagegen wirkt das Schleierbild in Manoppello viel überzeugender. Und in Manoppello behauptet man, der Schleier sei dem Kloster geschenkt worden - von einem als Pilger verkleideten Engel. Und es sei das echte und einzige "Schweisstuch der Veronika" (das 1204 geraubte Bild von Edessa), da sind sich diese Leute ganz sicher.
Badde veröffentlichte ein Buch über diese Reliquie im September 2005 und erhielt viel Aufmerksamkeit dafür. Auch von höchsten Stellen: Anfang September 2006 landete ein Hubschrauber auf einer Wiese nahe der Kirche von Manoppello: Papst Benedikt XVI erwies dem Bild die Ehre seines Besuches. Er habe eine Stunde lang vor dem Bild gebetet, war daraufhin in den katholischen Medien zu lesen. Die Pressestelle des Vatikans widersprach postwendend: Nicht gebetet habe das Oberhaupt der katholischen Kirche, sondern meditiert. Und das sei ein wesentlicher Unterschied.
Nachdem der Papst das Bild durch seine Aufmerksamkeit geadelt hatte, setzte ein reger Pilgerstrom nach Manoppello ein, der bis heute anhält. Sogar neue Unterkünfte für die Besucher mussten inzwischen gebaut werden, die Klosterkirche wurde in den Stand einer "Basilica minor" erhoben und regelmäßig stattfindende Prozessionen mit dem Bild verstärken den Zulauf noch.
Was die Entstehungsgeschichte dieses Bildes angeht, kann ich nur soviel beitragen: Es wird behauptet, es sei aus Byssus gewoben. Das ist ein dicken Spinnweben verwandtes Material, mit dem sich bestimmte Muscheln am Meeresgrund verankern, es wird deshalb auch “Meerseide” genannt. In seinem natürlichen Vorkommen ist es goldbraun bis rot- braun, es kann aber mit Säuren gebleicht werden, bis es fast transparent ist.
Mit Purpur gefärbter Byssus war ein Handelsprodukt der Purpurfärber im Bereich des heutigen Nahen Ostens. Und laut einer Byssus-Expertin, die Paul Badde zu dem Bild befragt hat, sei Purpur der einzige Farbstoff, den Byssus überhaupt annimmt. Badde kommentiert das nicht weiter.
Von einhundert Menschen kennen vielleicht neunzig den Begriff "Purpur" und identifizieren ihn als eine Farbe. Zwanzig von Hundert wissen, dass es eine Textilfarbe war und im Mittelalter irgendwie eine wichtige Rolle gespielt hat. Was Purpur wirklich war, weiss so gut wie niemand mehr.
Die Vorgänger von Papst Benedikt, hatten es immer vermieden, Stellung zu diesem Schleierbild in den Bergen zu beziehen. Man kann wohl davon ausgehen, dass ihnen die Geschichte des Bildes zu suspekt war: Selbst wenn es die "echte Veronika", das "Bild von Edessa" sein sollte, war es immer noch die Beute aus einem Raubzug, den römische Christen gegen Anhänger der Ostkirche unternommen hatten. Wahrscheinlich haben ihre Berater abgeraten - die auch Benedikt gewarnt haben sollen, das Bild zu beehren.
Der Vatikan unterhält seit langer Zeit ein Amt, das sich mit diesen Fragen befasst und das Archiv der römisch-katholischen Kirche verwaltet: die "Kongregation für die Glaubenslehre". Wenn es heute noch Unterlagen zu den Vorgängen um diese Bilder gibt, dann müssten diese dort zu finden sein. Aber die Archive sind der Öffentlichkeit nicht zugänglich, und auch für die Wissenschaft ist der Zugriff auf diese Dokumente stark eingeschränkt und reglementiert.
Die "Kongregation für die Glaubenslehre" trägt diesen Namen erst seit 1965. Davor hiess sie "Heilige Kongregation des Heiligen Offizium“. Und vor 1908 hatte dieses Amt einen Namen, der 400 Jahre lang ein Synonym für Angst und Schrecken war: "Kongregation der römischen und weltweiten Inquisition".
Mit der Umbenennung des Amtes änderte sich auch der Titel des Amtsträgers. Aus dem "Großinquisitor der römisch-katholischen Kirche" wurde ein "Kadinalpräfekt der Glaubenskongregation". Joseph Kardinal Ratzinger wurde im November 1981 zum Leiter der "Kongregation für die Glaubenslehre" in Rom ernannt - ein Amt, das er bis zu seiner Wahl zum Oberhaupt der katholischen Kirche im April 2005 inne hatte.
Und dieser ehemalige Kardinalpräfekt der Glaubenskongregation, lenkte als Pabst Benedikt XVI das öffentliche Interesse auf das Manoppello-Bild.
Was sollte das? Was hatten die vor? Die Heimholung des Edessa-Bildes in den vatikanischen Reliquienschatz? Die Wiederbelebung des "Vera Ikon" - Kultes? Ich war verwirrt und verunsichert.
Aber in einer Welt, die so sehr den Dingen verhaftet ist wie die unsere, ist es nicht einfach, die Menschen für ausschliesslich spirituelle Werte zu begeistern. Und selbst wenn das gelingt, dann wollen sie Beweise für das Wirken dieser Spiritualität. In einer medien- dominierten Zeit sind geheimnisvolle Bilder als Beweis für das "Übernatürliche" besonders gut geeignet. Das war von Anfang an die Aufgabe der "autographischen Bilder": Diese Bilder stehen als Beweis für das darauf Abgebildete. Heute und vor 1500 Jahren.
Unsere Zeit ist mindestens genau so mythenhungrig wie das Mittelalter. 2006 war das Jahr, in dem Papst Benedikt dem Manoppello-Bild die Ehre seines Besuches erwies. Im selben Jahr wuchs die Weltauflage des Buches "Der Herr der Ringe" - bedingt durch den Erfolg der Verfilmung - auf über 125 Millionen verkaufte Exemplare und belegt damit Platz 4 auf der ewigen Bestsellerliste. Davor rangieren nur noch die Bibel, Maos kleines rotes Buch und der Koran. Auf Platz 5 folgt das "Buch Mormon". (4)
Andreas Lobe, im Mai 2008
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